Immer mal wieder begegnen einem Menschen, die einem auf sonderbare Weise im Gedächtnis bleiben, obwohl sie das eigene Leben kaum oder gar nicht beeinflussen. Die engen Freunde, guten Bekannte, all die Personen, die aktiv Einfluss nehmen, können mühelos rekapituliert werden. Damit das Leben aber all die furchtbar schönen und ab und zu traurigen Geschichten schreiben kann, benötigt es Statisten und Nebenrollen, die den Hintergrund ausfüllen und ihn weniger blass wirken lassen.
Der Campus, an welchem ich zwei Jahre lang mehrere Tage in der Woche verbracht habe, ist etwas oberhalb der Stadt gelegen und bildet damit das Tor zum Eintritt in den Taunus. „Unter den Eichen“, so der Name des Teilbereichs der Hochschule Rhein-Main, ist dabei keine billige Paraphrase, wie sie oftmals für repräsentative Neubaugebiete benutzt wird, sondern stellt sich als offenkundiger Tatbestand dar. Neben den erwähnten Eichen bildet eine adrett gepflegte Parkanlage und ein kleiner Teich eine überaus angenehme Umgebung, um sich als Student wohlzufühlen. Der einzig negative Faktor an der naturnahen Lage ist der Mangel an Möglichkeiten zur kulinarischen Versorgung. Lediglich ein kleines Cafe und eine Mensa mit tagesabhängiger Qualität an Kochkunst stehen zur Verfügung. Innerhalb des kleinen Cafes findet sich eine dieser erwähnten Nebenrollen.
Eingenommen wird sie von einem ca. 1,85 Meter großen Mann, der mit leicht ostdeutschem Akzent Getränke, Süßigkeiten und belegte Brötchen anbietet. Verkaufen wäre in dem Zusammenhang etwas zu weit gegriffen, denn zum einen ist die Konkurrenz rudimentär, so dass er quasi ein „Brötchen-Monopol“ besitzt, und zum anderen ist Verkaufen nicht so sein Ding, da er hierfür die ihm innewohnende Bräsigkeit und Wortkargheit ablegen müsste. Obgleich Menschen offensichtlich nicht ganz sein Metier sind, kann er zumindest für Brötchen eine außergewöhnliche Leidenschaft entwickeln. Dies spiegelt sich darin wider, dass der Mann hinter dem Tresen mit stoischer Ruhe und Gelassenheit die Brötchen je nach Kundenwunsch in ein kunstvolles Kleinod verwandelt.
Bestellt der Kunde die volle Bandbreite seiner Brötchenzutaten gibt es eine Schicht Butter, zwei Salatblätter, Tomate, Ei, Gurke, Wurst und Käse sowie zum krönenden Abschluss die Auswahl zwischen drei verschiedenen Soßen: Curry, Chili und Mayo. Chili spricht er dabei „Schilli“ aus. Die Auswahl der Brötchenkombination erfolgt analog dem Subway-Vorgehen: Zuerst die Brötchenauswahl, dann kommt der Belag und schließlich die Soße, wobei der knorrige Kiosk-Mann stets nach jedem Arbeitsschritt nachfragt, welche der Zutaten Teil des Brötchenkunstwerks werden sollen. Small-Talk hat in der Zubereitung keinen Platz. Das Brötchen steht im Mittelpunkt. Dabei spielt es dann auch keine Rolle, ob die Kundenschlange in der Zwischenzeit aus dem Raum hinaus und gefühlt einmal um das Hochschulgebäude gewachsen ist. Das Prozedere wird gewissenhaft eingehalten. Hektik hat schließlich noch nie Probleme gelöst.
Ich bilde mir ein, dass sich zwischen dem Brötchenmann und mir in den vergangenen zwei Jahren eine besondere Art der Freundschaft entwickelt hat. Als ich ihm eines sonnigen Sommertages einmal vorgeschlagen habe, dass die Schokoriegel im Kühlschrank doch viel besser aufbewahrt werden könnten, wurde das innerhalb weniger Tage bereits umgesetzt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob das aufgrund meines Denkanstoßes geschah oder ich bis dato einfach zu blöd war, die Schokoriegel im Kühlschrank zu entdecken. Darüber hinaus habe ich meinen Kaffee bei ihm immer mit einem Schuss Milch geordert. Milchkaffee ist mir zu milchig und Kondensmilch zu kondensig. Dieser Umstand hat sicher ebenfalls dazu beigetragen, dass er mich nachhaltig in sein Brötchenherz geschlossen hat. Glaube ich zumindest. Aus seiner Mimik war das leider nicht abzulesen. Überhaupt konnte ich den Brötchenmann trotz seiner – oder gerade aufgrund seiner – Knurrigkeit immer sehr gut leiden. In einer Welt, in der junge Erwachsene berühmt und erfolgreich werden können, indem sie auf Youtube erzählen, was sie heute bei dm eingekauft haben, wirkt der Brötchenmann herrlich bodenständig und gerade zu erfrischend einfach. Ich bin mir sicher, der Brötchenmann würde in einer Cocktailbar Fantakorn trinken. Nicht weil er es muss, sondern weil er der Meinung ist, Schirmchencocktails sind was für Partylöwen und Schnösel und „FaKo“ amtlich knallt.
Das ist aber reine Spekulation. Unter Umständen ist der Brötchenmann auch ein Selbstdarsteller, vielleicht sogar ein Star, in einer Welt, mit der ich sonst nicht in Berührung komme. Vielleicht besitzt er sogar einen eigenen Youtube-Channel. Dort stellt er wöchentlich in seinen Videos die Neuerungen innerhalb der Modelleisenbahnwelt vor. Die meisten Menschen wissen nämlich nicht, dass der Brötchenmann eine der größten Miniatureisenbahnen Deutschlands in seinem Hobby-Keller aufgebaut hat. In dem Gewirr aus Andreaskreuzen, klebenden Bäumen und vielen kleinen Zügen fühlt er sich am wohlsten. Dort ist er Chef. Als eine der Koryphäen seiner Zunft genießt er überregionale Berühmtheit und ist auf allen Modelleisenbahnmessen geschätzter Gast und Gesprächspartner. Fachtagungen kommen ohne seine Expertise nicht aus und für Fans hat er immer gern eine Autogrammkarte dabei. Neuerdings muss er auch Selfies machen. Das ist ihm etwas zuwider, da er es noch nie gekonnt hatte, auf Befehl zu lächeln. Da er aber ein freundlicher und zuvorkommender Mensch ist, lässt er sich auch dazu überreden. Für mehr als ein zaghaftes Grinsen reicht es aber nicht. Nach den samstäglichen Veranstaltungen steigt er schließlich in seinen alten und etwas rostigen Opel Kadett und freut sich auf einen ruhigen Nachmittag mit der Brötchenfrau im gemeinsamen Schrebergarten. Dort genießen sie bei Weißweinschorle und Fantakorn vergnügliche Stunden in der Natur. So stelle ich es mir zumindest vor.
Neulich habe ich den Brötchenmann vermutlich zum letzten Mal getroffen. Ich saß in der Mensa und aß etwas von der Tageskarte, was mir geschmacklich nicht längerfristig im Gedächtnis geblieben ist. Da Semesterferien waren, war das Kiosk, in dem der Brötchenmann normalerweise anzutreffen ist, geschlossen. Also half er in der Mensa aus. Ich war gerade dabei, mein Tablett in Richtung der dafür vorgesehenen Rollständer zu bringen, als mir der Brötchenmann auf halbem Weg entgegenkam und mir helfend das Tablett abnahm. Ich dankte ihm, woraufhin er mir ein trockenes „und n schönes Wochenende“ nachrief. Ich drehte mich um und schickte ein „Ihnen auch“ hinterher. Einen schöneren Abschied hätte ich mir nicht ausdenken können.