Ein Schuh berührt den anderen. Auch Begrüßungen verändern sich in einer Zeit, in der vieles von dem, was alltäglich schien, einen anderen Weg nimmt. Wir laufen los, halten den gebotenen Abstand ein. Der erste Stopp: ein Kiosk, nur wenige Meter von unserem Treffpunkt entfernt. Wir holen uns ein Bier. Der Freund bezahlt die Runde. Wir stoßen an und trinken den ersten Schluck. Es schmeckt. Während wir weitergehen, erzähle ich, dass ich mich sehr auf diesen Abend gefreut habe. Auf einen Abend, der nicht innerhalb meiner eigenen vier Wände stattfindet. Ein Abend, der überhaupt keine Wände hat, der nicht begrenzt ist, der einen Ausweg aus der Monotonie verspricht.
Wir haben uns schon länger nicht mehr gesehen, also von Angesicht zu Angesicht. Klar, die Displays der digitalen Kommunikationsmittel verraten, dass er sich optisch nicht verändert hat. Doch wir sind beide Fans von analogem Kontakt und es gibt viele Dinge, die noch unausgesprochen vor uns liegen. Die vor dieser Nacht liegen. Ungeduldige Worte und Gedanken, mit denen wir sie füllen wollen. Bis die Nacht komplett voll ist – und wir leer, müde und zufrieden nach Hause wanken.
Fünf Minuten später, der zweite Stopp: Eine Pizzeria. Kein elegantes Restaurant, sondern ein kleines Ecklokal, bei dem Nachbarn in Jogginghose vorbeikommen und hastig ihre Vorbestellungen abholen. Man kennt sich. Wir bestellen zwei Pizzen zum Mitnehmen. Während der Wartezeit stehen wir vor dem Lokal, trinken das Bier und bringen uns gegenseitig auf den neuesten Stand. Die Sonne ist gerade untergegangen und zwischen den Häuserfassaden hält sich eine Restwärme, die bereits eine leise Ahnung von Sommer verbreitet. Es ist Freitagabend und für gewöhnlich würde sich zu diesem Zeitpunkt eine hoffnungsvolle Unruhe ankündigen. Eine Gier nach Unbekanntem und Unverhofftem, nach Geschichten und Abenteuern. Die Gier ist intensiv, aber vollkommen unwissend, womöglich unverrichteter Dinge nach Hause gehen zu müssen.
Die Pizzen sind fertig. Wir bezahlen, nehmen die Kartons und machen uns auf die Suche nach einem Ort zum Sitzen, Essen, Reden. Nach wenigen Minuten finden wir einen Treppenabsatz, der für zwei Personen und zwei Pizzakartons ausreichend Platz bietet. Das erste Bier ist mittlerweile leer. In einem Kiosk in der Nähe findet sich Nachschub. Cheers. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite zieht eine kleine Gruppe Teenagerboys vorbei. Man hört sie schon von weitem. Mehrere rauchen, einer hat eine Flasche Wodka in der Hand. Die Straße ist ihr Revier. Sie fühlen sich unbesiegbar. Daran ändert auch ein Virus nichts. Der Nachhall ihrer lauten und von liebevollen Schimpfwörtern durchdrungenen Gespräche dringt auch außerhalb unseres Blickfelds noch zu uns.
Unser Abend wird langsamer, matter. Pizza und Bier liegen schwer im Magen. Auch die Gespräche sind in der Zwischenzeit ernsthafter geworden. „Eigentlich könnten wir jetzt auch nach Hause gehen, hier passiert heute sowieso nichts mehr.“ Und ja, es stimmt. Keine Bar offeriert unerwartete Begegnungen, kein Club verspricht treibende Beats. Noch geben wir uns nicht geschlagen. Irgendwas oder irgendwer muss doch auf uns warten? Wir finden keine Antwort.
Einen kurzen Spaziergang später haben wir uns mit Wodka-Mate eingedeckt. Der leidige Versuch der Müdigkeit entgegenzutreten. In der Nähe befindet sich eine Parkbank, die unser Domizil für die nächsten Minuten und die nächsten Gespräche werden soll. Leider besetzt. Zwei Typen sitzen darauf und scheinen ähnliche Pläne zu verfolgen. Aber welche Pläne? Wir haben keine Pläne. Allein der Wunsch nach Gesellschaft und Worten hält diesen Abend am Laufen. Wir laufen weiter.
Eine Querstraße weiter finden wir vor einer geschlossenen Bäckerei eine verwaiste Sitzfläche. Zufrieden stellen wir fest, dass unser neuer Platz nicht nur genügend Komfort bietet, sondern auch ideal geeignet ist, um das Geschehen rund um die Straße einsehen zu können. Und wir werden nicht enttäuscht. Schon nach kurzer Zeit werden wir Zeugen einer Personenverfolgung. Aus einer kleinen Gruppe mittelalter Typen schert einer aus und rennt in gegenüberliegender Richtung davon. Von links kommt ein Streifenwagen ins Geschehen. Polizei von links, dann wieder von rechts. Es ist undurchschaubar, was genau passiert oder der Grund dieser wilden Rennerei ist. Aber für eine Viertelstunde ist hier Bewegung. Und unsere Bank liefert die besten Plätze dafür. Gemütlich eine Zigarette rollen und anstoßen. Wir sind wieder wach.
Die Wirkung des Wodkas setzt ein. Beschwingt denken wir an Zeiten, in denen das Leben noch nicht eingeschränkt war. Zu den vielen physikalischen Phänomenen, die einen verwundert und irritiert zurücklassen, zählt auch die subjektive Zeit-Wahrnehmung. Obwohl es nur sechs Wochen sind, in denen unser Leben eine andere Geschwindigkeit annahm, fühlt es sich nach weit entfernter Vergangenheit an. Als würden wir von einer sonnengetränkten Kindheit auf dem elterlichen Bauernhof schwärmen. Von einer Zeit, in der alles noch einfach und leicht schien. Zurück im Hier und Jetzt beschließen wir, dass es an der Zeit ist, weiter zu ziehen. Warum, wissen wir selbst nicht so genau.
Wir bewaffnen uns mit einem weiteren Bier. Dazu kommt Schnaps. Wodka Gorbatschow, 4 Cl. Super eklig. Noch ekliger wäre nur die Alternative gewesen. Beim Bezahlen halten wir das aber für eine vernünftige und angemessene Idee. Kurze Zeit später werden wir es bereuen. Wir laufen los. Ziehen planlos durch die Stille. Eine Stille, die so ungewohnt ist, dass es sich fast unangenehm anfühlt. Alle um uns scheinen bereits zu schlafen. Das Tageslicht bietet offensichtlich bessere Unterhaltung. Wir sind anderer Meinung und lassen uns an einem leeren Brunnen nieder, der für die nächste halbe Stunde Ort unserer Gedanken wird.
Normalerweise würden um den Brunnen mehrere kleine Gruppen von Menschen sitzen. Heute sitzt dort nur ein Typ, der ruhelos in sein Smartphone spricht. Auch er versucht der Einsamkeit zu entfliehen. In Gedanken wünschen wir ihm viel Glück dabei. Kurze Zeit später steht er auf, entfernt sich und wir sitzen allein am Brunnen. Unsere Worte beschleunigen sich. Der Blick geht in die Zukunft. Wann werden wir solche Abende wieder in einer größeren Gruppe erleben können? Und wann wieder gemeinsam tanzen? Da wir keine Antworten auf diese Fragen finden, wenden wir uns der Vergangenheit zu. Tauchen gedanklich in vergangene Nächte ein. Exzess im Kopf. Es entsteht ein Konglomerat aus unzähligen, ineinander verwobenen Nächten, zusammengefügt und verklärt zu einem einzigartigen Gefühl des Loslassens und der Lust. Es wird Zeit für Musik. Etwas spüren, was auch greifbar ist. Wenn auch nur mit den Ohren. Mit Hilfe unseres Smartphones bringen wir musikalische Untermalung in die Szenerie. Es tut gut, das nächtliche Schweigen der Stadt zu brechen. Kurz im Was-wäre-wenn verweilen. Für mehr reicht es nicht. Ein letztes Bier muss sein.
Wir brechen auf und lassen den Brunnen einsam zurück. Die Straßen sind leer. Die Nacht ist mittlerweile kühl geworden und die Stunden bis zum Sonnenaufgang lassen sich an wenigen Fingern abzählen. Es ist unwahrscheinlich, dass noch ein Kiosk offen hat. Egal, ein Versuch. Es brennt noch Licht. Glück gehabt. Die letzte Station unserer Reise bahnt sich an.
Wir treten ein. Im Inneren treffen wir auf den Besitzer des Kiosks. Er freut sich, uns zu sehen. Wir kennen ihn. Häufig ist sein Laden erste Anlaufstation, um in den Abend zu starten. Oder für eine letzte innige Umarmung der Nacht. So wie heute. Es dauert nicht lange, bis der Kioskbesitzer die erste Runde Jägermeister in seinen Händen hält und an alle Anwesenden verteilt. Das sind wir und sein Angestellter. Cheers. Er freut sich wirklich, uns zu sehen. Die Gespräche werden lauter und die Nacht nimmt noch einmal unerwartet Fahrt auf. Ein letztes Aufbäumen. Noch einmal die Gedanken sammeln. Nächste Runde Jägermeister. Cheers. Der Kioskbesitzer will eigentlich nach Hause. Auf ihn wartet eine kleine Familie. Die Unvernunft ist stärker. Auch er vermisst das laute, wilde Durcheinander. Irgendwer bringt von irgendwo eine neue Runde Jägermeister. Es wird undurchsichtig. Nebel macht sich in unseren Köpfen breit. Cheers. Jägermeister. Cheers. Die Sinne lassen nach. Die Worte sowieso. Wir verabschieden uns. Der Kopf ist leer und müde. Wir haben der Nacht alles gegeben, was zu geben war. Haben gesucht, nach einem Gefühl, das ohne Nähe nicht möglich ist. Und haben dennoch vieles auf unserem Weg gefunden, was wir in den letzten Wochen stark vermisst haben. Glücklich wanken wir nach Hause.