Habe ich erst neulich wieder festgestellt, als ich mir mit meinem Laptop ein intensives Blickduell geliefert habe. Ich blickte apathisch und regungslos auf ihn, er strahlte in Form eines weißen Microsoft Word-Blattes stoisch zurück. Nach drei Stunden gab ich resigniert auf. 1:0 für ihn. Verdammt, wieder drei Stunden vollkommen sinnlos verplempert! Das kann so nicht weitergehen. Werde mir nun ein neues Hobby suchen. Die drei Stunden kann man schließlich auch produktiv nutzen.
Ich habe in einer Spiegel-Reportage gelesen, dass der Deutsche Brieftaubenzuchtverband Nachwuchssorgen hat. Junge Menschen sind offenbar nicht mehr an Federvieh und Briefen interessiert. Auch die Ausdauer und Geduld für die Aufzucht eines Tieres wollen viele nur noch Vierbeinern zukommen lassen. Das finde ich schade, aber angesichts der durchschnittlichen Anzahl von Nachrichten, die heute pro Tag verschickt werden, könnte das auch zu veritablen Schwierigkeiten in der Luftbenutzung führen. Wenn Amazon irgendwann Pakete per Drohne verschickt, wird’s richtig eng.
Ich lasse mir die Idee mit den Tauben auf jeden Fall durch den Kopf gehen. Viele wissen gar nicht, dass eine ausgezeichnete Brieftaube ein äußerst wertvolles Geschöpf ist. Insbesondere chinesische Investoren haben den deutschen Brieftaubenmarkt für sich entdeckt und zahlen ähnliche Mondpreise wie für brasilianische Fußballer. Mehrere zehntausend Euro bis hin zu einer halben Million sind im Bereich des Möglichen. Der Gedanke, sämtliche Bafög-Schulden mit einer Taube abzubezahlen, behagt mir. Als Neueinsteiger müsste ich natürlich erst in Vorleistung treten, bevor ich in ein paar Jahren die Lorbeeren meiner intensiven Zuchtarbeit ernten kann.
Bevor ich jedoch einen ausgeklügelten Plan entwickle, meinen Mitbewohnerinnen den Taubenschlag im Flur und das ständige Gurren schmackhaft zu machen, bringt ein Gespräch beim zuständigen Studentenwerk Klarheit. Weder wollen sie die Taubenzucht als schwerwiegenden Grund zur Fortzahlung meines Bafögs über die Regelstudienzeit hinaus gelten lassen, noch kann die finanzielle Mehrbelastung in Form von Futter und Taubenschlag übernommen werden. Ernüchtert begrabe ich meinen Traum von gefiederten Gefährten.
Zum Glück habe ich noch einen Plan B. Ich schaffe mir einen Kampfhamster an. Ein kleines, quirliges Kerlchen namens Jochen. Er besitzt den Stolz einer russischen Mätresse und den Kampfgeist eines japanischen Harakiri-Bombers. Er ist zudem äußerst genügsam. Zwei Mahlzeiten am Tag und intensives Training bestimmen seinen Tagesablauf. So geht das auch mit dem Bafög. Neben Jiu-Jitsu Boxen und Kung-Fu ist das Kickboxen Jochens Passion. Wieselflink und mit einem starken, linken Hacken bewaffnet ziehen wir beide zu diversen Wettkämpfen. Ich bin als sein Betreuer besonders nah am Ring und motiviere Jochen immer wieder.
Diese Wettkämpfe muten dabei oft wie Geflügelschauen an. Viele alte Männer mit dicken Bäuchen und wenig Haaren sind zugegen. Da diese Männer oftmals viel mehr Zeit und Energie in ihre tierischen Gefährten als in ihre lieblose, vor sich hin plätschernde Ehe investiert haben, sind sie dementsprechend motiviert. Umso größer ist die Frustration, wenn Jochen und ich gewinnen. Jugendliche Dynamik besiegt routinierte Erfahrung. Nicht selten bahnen sich Tränen des Verlusts in die untersetzten Gesichter der alten Herren. Die Feststellung, kein großes Ziel mehr im Leben zu haben und keinen Grund für das Streben zu finden, wiegen viel schwerer als die eigentliche Niederlage. Jochen und ich ziehen von Wettkampf zu Wettkampf. Zurück bleiben demoralisierte und am Boden zerstörte Endsechziger.
Dieser Anblick macht traurig und depressiv. Mit einem letzten Stück von Empathie nehme ich Jochen beiseite und erkläre ihm, dass wir so nicht weitermachen können. Trotz unserer Gewinnserie von 15 Siegen (12 durch K.O.) hänge ich die Karriere an den Nagel. Der Preis war zu hoch. Jochen und ich gehen schweren Herzens getrennte Wege. Er wird nun in Las Vegas Schaukämpfe vollführen und als Sinatra-Double „New York, New York“ trällern. Ich starre weiterhin auf das leere Dokument.